Zu den Arbeiten von Gro Lühn

Die Arbeit von Gro Lühn wird duch eine Ökonomie der Mittel bestimmt: Klare Formen und Volumen lassen präzise optische Sachverhalte entstehen, die sich einer subjektiven Stellungnahme durch die Künstlerin enthalten. Dabei sind ihre Arbeiten grenz- wie gattungsüberschreitend angelegt, ohne einem bestimmten Medium oder Repertoire von Materialien verpflichtet zu sein: Skulpturale Interventionen im Innen- und Außenraum stehen neben Fotografie und seriellen Wandarbeiten, Metall, Stoff oder Wachs können je nach Arbeitskonzept zum Einsatz kommen. Und doch liegen ihren Einzelwerken und Werkgruppen vergleichbare Fragestellungen und Strategien zugrunde, die eine Verlebendigung des Visuellen bewirken. Denn trotz oder gerade wegen ihrer minimalistischen Erscheinung öffnen sich ihre Arbeiten einem komplexen, unabschließbaren Wahrnehmungsprozeß, der auf dem energetischen Potential von Farbe, Licht und Raum begründet ist - und damit auch das Sehen selbst zum Gegenstand erweiterter Betrachtung macht.

Stellvertretend für diese Verfahrens- und Wirkungsweise stehen ihre Raster, die sich aus einer variablen Anzahl flacher, farbiger Scheiben zusammensetzen. Aus pigmentversetztem Wachs in Stahlformen gegossen, sind verschiedene Gruppen zwischen neun und 50 Zentimeter Durchmesser entstanden, die dann - je nach Raumsituation - in veränderlichen Formationen zu regelmäßigen Reihen und Feldern angeordnet werden. Um die Farbe durch das Raumlicht zu optimieren, werden die monochromen Tondi stets in einem geringen Abstand zur Wand montiert. Entsprechend scheinen sie vor der Fläche zu schweben, auf die sie ihre Schatten werfen. Vor allem an den Rändern bildet ihre opake, samtige Materialität eine farbige Aura aus, die durch den Wechsel der Lichtverhältnisse beeinflußt wird. Verstärkt wird diese entmaterialisierende Wirkung aber auch durch den Rhythmus und die Interaktion von insgesamt 33 teils wiederkehrenden Farbwerten, deren Anordnung das kompositionelle Vorgehen der Künstlerin deutlich werden läßt. Und doch entzieht sich das visuelle Resultat insofern einer kalkulierbaren Ordnung, als immer wieder dynamische Allianzen und veränderliche Nachbarschaften entstehen, die zu einer nachhaltigen Vitalisierung der an sich strengen, seriellen Muster führen.

Liegt den Rastern eine autonome Ästhetik zugrunde, so schuf Gro Lühn mit dem 1998 realisierten Zwischenraum eine ortsbezogene Skulptur, die ebenfalls auf einem subtilen Zusammenspiel von Licht, Form und Farbe beruht. Für ein altes Speichergebäude im Hafen von Münster konzipiert, schuf sie eine insgesamt 22 Meter hohe Installation aus orangefarbener, gummierter Baumwolle, die - von unten durch einen Scheinwerfer beleuchtet - in den Schacht eines stillgelegten Lastenaufzuges eingelassen wurde und dadurch alle sechs Etagen miteinander verband. In den von Holzbalken und Steinwänden geprägten Räumen der alten Lagerhalle nahm sich der intensiv leuchtende Farbschlauch wie ein artifizieller Fremdkörper aus, und doch sorgte er für eine optische Verklammerung in der Vertikalen, die etappenweise erkundet werden wollte, um sich von Stockwerk zu Stockwerk zu komplettieren.

Als Stationen, die zuallererst durch die (Seh-) Bewegung des Betrachters wirksam werden, läßt sich auch die 1997 entstandene Außenarbeit DREI BILDER DREI ORTE beschreiben, für die Gro Lühn drei identische Rahmenformen aus Stahl an unterschiedlichen Schauplätzen in Telgte installiert hat. Zwei von ihnen wurden im innerstädtischen Bereich aufgestellt, ein weiterer Rahmen direkt auf dem Geländer einer Brücke mit Blick auf die von Bäumen gesäumte Ems befestigt. Stets auf ungefährer Augenhöhe montiert, sind die fensterähnlichen Einfassungen um eine ideale Positionsmarkierung am Boden ergänzt. Nimmt nun der Spaziergänger diesen vorgeschlagenen Standort ein, so wird sein Blick durch die Umrandung auf eine bestimmte Ansicht fokussiert. Und wird er dabei auch keiner Sensationen gewahr, die sein schweifendes Auge nicht ohnehin bemerken könnte, so gewinnt das scheinbar vertraute Gelände durch die Rahmenarchitektur doch eine ungeahnte Intensität, die der alltäglichen Umgebung neue Perspektiven abgewinnen mag.

In seiner komparistischen Abhandlung "Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts" von 1934 hat August Langen dieses Phänomen der Rahmenschau psychologisch wie erkenntnistheoretisch pointiert: "Das Streben zum Rahmen ist ein Urbedürfnis des menschlichen, oder doch des abendländischen Geistes. Der Wille zur Beschränkung des Gesichtsfeldes, zur Isolierung und Eingrenzung des betrachteten Gegenstandes, entspricht einer Grundforderung des Sehens und Erkennens." Dabei hat der Autor unter anderem nachgewiesen, wie die Perspektivterminologie (der Renaissance) auf die Alltagssprache abgefärbt hat - und die Landschaftsbetrachtung in freier Natur nun ihrerseits als Gemäldegleichnis, als "Kette selbständiger Einzelbilder" aufgefaßt wurde. Erweitern läßt sich diese Assoziation aber auch um neuere Medien der Bildgewinnung - etwa um den Sucher der Kamera, der das natürliche Umfeld in perspektivische Ausschnitte zergliedert, oder um den Monitor des Fernsehers, der die elektronisch übertragenen Bilder als sprichwörtliches "Fenster zur Welt" in ein Gehäuse mit statischer Einfassung preßt.

Wenn auch Gro Lühn mit ihrer Rahmenschau auf eine solche Intensivierung der Wahrnehmung zielt, so findet ihr Eingriff doch an Ort und Stelle, nämlich im realen Sehraum des Betrachters statt. Selbst noch im Unterschied zur Maueröffnung, die als Loch in der Wand eine pointierte Konfrontation von Innen- und Außenraum bewirkt, hat sie ihre "Landschaftsfenster" bis auf einen schmalen Rahmen freigestellt, um dadurch den bewegten Blick des Passanten - jenseits jeder Dialektik - auf einen bewußt gewählten Bildausschnitt zu fokussieren. Mehr noch als diese Fixierung auf eine "schöne Aussicht" inmitten des Panoramas mögen dabei jene Momente von Bedeutung sein, in dem der wandernde Blick in das vorgegebene Sehfeld einschwenkt, den Rahmen als eine Art "äußeres Auge" begreift, um ihn schließlich wieder zu verlassen. Wird also der natürlichen, oft oberflächlichen Sehbewegung durch den Eingriff der Künstlerin für einen frei gewählten Zeitraum Einhalt geboten, so geht dies mit einer doppelten Bewußtwerdung einher: Nicht nur dem Ausschnitt innerhalb der geschlossenen Form begegnen wir mit besonderer Aufmerksamkeit, auch der Akt des Sehens wird zu einer reflexiven Tätigkeit - und damit quasi auf sich selbst und seine Bedingungen zurückgeworfen. Dabei ist es gerade diese Eigenschaft, in der die Arbeiten von Gro Lühn - als unaufdringliches Angebot an den Betrachter - ihr eigentliches Potential entfalten.

Stefan Rasche